Falscher Verrat
Oper zum 100. Jahrestag des Kieler Matrosenaufstandes
und der Novemberrevolution von 1918
für Orchester, Soli und Chor
von Marco Tutino (Musik)
und Luca Rossi & Wolfgang Haendeler (Libretto)
Uraufführung: 3. November 2018 am Theater Kiel / Auftragswerk des Theaters Kiel; Italienische Erstaufführung in ital. Sprache: 28. Juni 2024 am Teatro Comunale Sassari
„Das Private ist politisch!“
Diese Grundüberzeugung der rebellierenden 68er-Generation, die die „freie Liebe“ mit der Freiheit der Gedanken verband und im treulich wiederholten Beischlaf mit „derselben“ schon die Zugehörigkeit zum verhassten „Establishment“ witterte, erlaubt jedoch auch den logischen Umkehrspruch: „Das Politische ist privat!“ Vermutlich treffen bzw. betreffen Privates und Politisches am stärksten und unabweisbarsten, wenn sie als eine untrennbare Einheit auftreten und in einem Vorgang oder Verhalten münden, dem an sich schon der Geruch des „Skandalons“ anhaftet – wie zum Beispiel dem Verrat.
Radikal verdichtetes Breitwand-Kammerspiel
Getreu der bekannten Maxime Giuseppe Verdis („Die Wahrheit nachzuahmen kann gut sein, aber die Wahrheit erfinden ist besser, viel besser“) haben Komponist Marco Tutino und das Librettisten-Duo aus Luca Rossi und Wolfgang Haendeler die historisch-politischen Fakten um die Befehlsverweigerungen auf der deutschen Hochseeflotte vor Wilhelmshaven („Feuer aus den Kesseln!“) mit dem die Abdankung Kaiser Wilhelms II. erzwingenden Kieler Matrosenaufstand in ein dramatisches, aber – allen verschiedenen Schauplätzen zum Trotz – psychologisch radikal verdichtetes Breitwand-Kammerspiel überführt. Neben der geradezu klassischen amourösen Dreieckskonstellation (Arno – Lola – Gabriel) werden insgesamt fünf verschiedene Charaktere präsentiert, die sich sowohl schroff voneinander abgrenzen, als auch – in dem antagonistischen Helden-Duo aus Arno und Gabriel – in der ihnen gemeinsamen Brüchigkeit gegenseitig widerspiegeln oder gar entlarven.
Fünf Verräter …
Alle fünf Protagonisten – Admiral Rufus Kropp, seine Tochter Elsa (Arnos Gattin), Kapitän Arno von Stahl, der Heizer Gabriel Jensen und die Prostituierte Lola (noch als Mädchen Gabriels erste Liebe Henriette) – stehen für diese Einheit aus Politischem und Privatem: Rufus, der die Ehre der Flotte und des Vaterlands mit dem Tod tausender junger Matrosen und Soldaten erkaufen will, und sich, seiner Tochter und seinem Schwiegersohn für den großen Tag dieses Opfergangs aber „Urlaub“ gewährt; Elsa, die nicht verstehen kann, wie ihr Gatte in den Matrosen und Heizern „Menschen wie wir“ zu erkennen meint und seine (private) Ehre (und ihre!) im Beischlaf mit Lola verliert; Arno, der Gattin und Schwiegervater in ihrem pervertierten Eliten-Bewusstsein klar erkennt und verurteilt und trotzdem im Stand des Gehorsams gegenüber seiner „Kaste“ verbleibt; Gabriel, der so idealistisch wie naiv, den Prototyp des revolutionären Helden abgeben könnte, und in seinem gekränkten Jungmann-Stolz seine Mission verrät und seine Zukunft mit Lola verspielt; Lola, die als Prostituierte im moralischen Niemandsland zu leben scheint und doch als einzige ihren moralischen Kompass behält, der Revolution machtlos die Treue hält und auch ihren beiden Liebhabern, obgleich sie im „falschen Verrat“ versagen, als Liebende verbunden bleibt.
… an fünf Tatorten
Verrat kennzeichnet auch alle der szenischen Schauplätze bis auf die Rahmen-Orte des Beginns (SMS Helgoland) und des Endes (Kieler Rathaus). Im Hause von Stahl (I/2) verrät Elsa jegliche Menschlichkeit, wenn sie den Schlachtplan gegen England preisgibt (nebst eigener Rettung!); im Haus von Gabriels Mutter (I/3) verrät Lola in Arnos Armen Gabriels Liebe; in Rufus‘ Arbeitszimmer auf der „Helgoland“ (I/2) verrät Gabriel seinen Vorgesetzten und Rivalen um Lola und kurz darauf gegenüber seinem Freund Richard den Plan zum Aufstand; in der Bar am Hafen (II/2) verrät Gabriel im zynischen Selbstmitleid sich selbst (wegen seiner Zustimmung zum Berlin-Arrangement) und sein zukünftiges Leben mit Lola; im Haue von Stahl (II/3) wird Arno zum zaudernden Hamlet („Wie soll ich mich entscheiden?“) und verrät seinen Widerstand.
Das Finale: Ein symbolischer Liebes(Frei)tod
In einem sogartigen Raum-Zeit-Korridor, der die Meuterei von Wilhelmshaven und den Aufstand in Kiel zusammenfasst und verdichtet, wird das Historisch-Politische ins Soziologisch-Psychologische gewandelt und mündet zuletzt in einem symbolischen Liebes(frei)tod, der Arno und Gabriel wie die zwei Seiten einer Medaille sterben und durch Lola wiederauferstehen lässt. Den „falschen Verrat“ der Männer kontert die „wahre ‚passione‘“ einer Frau, die beides existenziell begreift und durchlebt: das Private wie das Politische – Lola.